Viamonda Reisejournal

Alice im Reich des Seigneur de Sark

Die neben Jersey und Guernsey drittkleinste Kanalinsel Sark ist ein anachronistisches Wunderding. Die letzten 460 Jahre lang lebten die Menschen hier im Einklang mit der Natur und ihrem Feudalherren. Doch dann kamen zwei Bösewichte, und alles geriet aus den Fugen.

Lucie Paska, NZZ-Journalistin, war mit Vögele Reisen und Imbach Reisen im Sommer 2022 auf den Kanalinseln unterwegs. Den packenden Beitrag schrieb sie für den artundreise Blog, welcher am 21. Dezember 2022 erschienen ist.

Auf der Überfahrt von Guernsey auf die Schwesterinsel Sark weht uns ein steifer Wind entgegen und peitscht die Wellen über die Bordflanken. Aus dem Windschatten am Heck sehen wir die imposante Burganlage und die Silhouette des quirligen St. Peter Port, der Hafen- und Hauptstadt Guernseys, mit ihren Kirchen- und neugotischen Schulhaustürmen immer kleiner werden. Eine Dreiviertelstunde später spuckt uns der Eisenkahn zusammen mit ein paar Postsäcken in einer winzigen Bucht unter hoch aufragenden grünen Klippen aus. Wir stolpern eine lange Kaitreppe hoch, die vor einem schwarzen Tunnelloch in einer Felswand endet. Dort müssen alle durch. Wie hiess es noch in Dantes «Göttlicher Komödie»? –«Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.» Bienv’nu à Sercq.

Als wir am andern Ende herauspurzeln, reiben wir uns die Augen: Statt Dantes Hölle warten zwei klapprige Traktoren mit offenen Anhängern auf die Ausflügler. Einer der Fahrer trägt ein Hawaiihemd, Flipflops und einen Tirolerhut. Etwas abseits steht abgekoppelt ein leicht verbeulter Ambulanzanhänger. Auch zwei ausgekochte Finanzhaie gibt es auf der Insel und sogar einen irren Hutmacher, wie wir später erfahren. Die Fahrt einen steilen, kalttropischen Canyon hinauf dauert keine fünf Minuten und endet in einer staubigen Kurve neben der Dieselzapfsäule und einem riesigen Stromgenerator. Ein Feldweg führt von dort zu einer Kreuzung mit einer winzigen Kapelle, einer Bank und einem Haus mit blinden Fenstern. Das scheint der Hauptort zu sein.

Sark, Kanalinseln, Cottage

Cottage auf der Inseln Sark

Kein Mensch weit und breit, kein Auto. Eine Velovermietung soll es hier geben: zweiter Feldweg rechts. Hinter einer dicken Hecke stehen und liegen Dutzende Fahrräder jeden Alters, in Kisten Helme jeder Grösse. Von hier erreicht man in zwanzig Minuten jeden Punkt des nahtlos grünen, fünf Quadratkilometer kleinen Eilandes.

Die ungeteerten geraden Strassen entlang von Blumenwiesen, saftigen Schafweiden und überwucherten Weinbergen sind breit und von hohen Hecken und Bäumen beschattet. Gelegentlich rumpelt uns ein Mann auf einem Traktor, eine Frau auf einem Rad oder ein Kutscher, der gelangweilt auf sein Handy starrt, auf seinem Pferdewagen entgegen. Die Trampelpfade zu den kleinen Buchten sind lang und halsbrecherisch und führen in einen unheimlichen Brandungsdunst hinab. Der letzte Teil des Eilandes, die Halbinsel Little Sark, hängt an einem schmalen, langen Isthmus, auf dem gerade noch eine Strasse Platz hat. Links und rechts geht es schwindelerregende 80 Meter senkrecht in die Tiefe.

Statt dem weissen Kaninchen von Alice scheuchen wir auf unseren Erkundungen einen Fasan auf, der uns laut zeternd den Weg zum Seigneur der Insel weist: Dieser ist seit rund 460 Jahren Herr der Insel – oder besser gesagt: war. 1565 gab die englische Königin Elisabeth I das trutzige Eiland einem Adligen als Lehen, mit der Auflage, es zu besiedeln und gegen Piraten und Frankreich zu schützen, ausserdem sollte er ihr jährlich 1 Pfund 79 Cent zahlen. Diese Abmachung gilt bis heute. Auch ist das Land immer noch in dieselben 40 unteilbaren Pachtgüter aufgeteilt wie dazumal. Wobei jeder Pächter – heute meist wohlhabende Unternehmer und Nachkommen der ersten Siedler – eine geladene Waffe im Haus haben muss.

Sark, Kanalinseln

Einzige Transportmittel auf der Insel: Kutschen und Traktoren

Der letzte der bisher 23 königlichen Statthalter, Seigneur Christopher Beaumont, steht in weissem Button-down-Hemd vor seinem Schlösschen aus grauem Granit in der Sonne und beklagt die Feuchtigkeit in dem jahrhundertealten Gebäude und die hohen Heizkosten. «Ich bin erst einige Jahre nach dem Tod meines Vaters 2016 hierhergezogen.» Davor habe er nur die Sommerferien auf der Insel verbracht, die er einmal erben würde. Als ehemaliger Ingenieur in der britischen Armee und bei Rolls Royce habe er aber Gefallen gefunden an den nimmer endenden Renovierungsarbeiten, schmunzelt der elegante 65-Jährige. Stolz zeigt er uns seine kleine Eisenbrücke, die neu zur Scheune hochführt und einen Springbrunnen im Garten, den er aus einer alten steinernen Apfelpresse konstruiert hat.

Wie viele Bewohner seine Insel hat, weiss er nicht: «Es gibt hier keine Statistiken, aber es werden so gegen 500 sein», meint er nonchalant. Und wovon sie leben, ist auch nur eine Vermutung: Es habe eine Rinder- und Milchfarm auf der Insel, doch Gemüse in grösserem Stil produziere niemand. Weshalb, sei ihm schleierhaft. Alles werde eingeführt und der Abfall wieder mit dem Schiff weggebracht. «Das macht das Leben hier so teuer.» In die Pflege seines riesigen botanischen Gartens und in die Lokalpolitik mische er sich praktisch nicht ein. Bei seinem Vater war das noch anders: Er war der letzte Feudalherr Europas und hatte auf seiner Insel bei allem ein gewichtiges Wort mitzureden. Mit den 40 Vertretern der Pächterfamilien im Parlament wurde er immer irgendwie einig.

Doch seit die vermaledeiten «Barclay Twins» aufgetaucht sind, ist alles anders geworden: Die britischen Milliardärsbrüder und vermuteten Steuerhinterzieher David und Frederick Barclay, denen in London unter anderem das Hotel Ritz und der Telegraph-Zeitungsverlag gehören, haben 1993 Brecqhou (sprich Brecku) gekauft, eine kleine Sark vorgelagerte Insel, und dort ein mächtiges Schloss in neugotischem Stil bauen lassen. Dann stellten sie aber mit Entsetzen fest, dass sie ihr Erbe nicht auf ihre vier Kinder aufteilen konnten, sondern das Inselgesetz einzig den ältesten Sohn einer Familie dafür vorsieht. 2008 reichten sie deshalb Klage beim Europäischen Menschengerichtshof in Strassburg ein gegen dieses und weitere «abstossende mittelalterliche Gesetze, die einer ethnischen Säuberung gleichkommen» und ihrer Ansicht nach gegen Menschenrechte verstossen.

«Sie wollten unser bewährtes Feudalsystem, das Verbot der Erbteilung und die Personalunion von Parlamentssprecher und oberstem Laienrichter abschaffen und Autos einführen», entrüstet sich Reginald Guille, seines Zeichens ehemaliger Oberstleutnant, der als Parlaments- und Gerichtsvorsteher auf der Insel jahrzehntelang für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Der 82-jährige Schnauzbärtige mit militärischem Schmiss, der einer der ältesten Familien der Insel entstammt, empfängt uns in der ehemaligen Knabenschule, einem niedrigen Gebäude mit langen Schulbänken, das heute als Parlaments- und bei Bedarf als Gerichtssaal dient.

«Auf Anraten der britischen Regierung haben wir dann einige Gesetzesänderungen vornehmen müssen. Doch damit ist hier alles aus den Fugen geraten», konstatiert er bitter. Seit den 40 Pächtern nicht mehr automatisch ein Sitz in der Regierung zustehe und wegen des juristischen Gezänks mit den Barclays, finde sich kaum noch jemand, der sich zu der neu eingeführten demokratischen Wahl stelle. Die Regierung sei kaum noch beschlussfähig. Im Notfall müsse Sark dann von London aus regiert werden. «Seit dem Tod eines der Brüder 2021 zerfleischt sich die Familie Barclays nun aber selbst», schiebt Reg leise nach, und ein maliziöses Lächeln huscht über sein Gesicht.

Eine Million Pfund jährlich seien nötig, um das Gemeinwesen und die Infrastruktur einigermassen in Schuss zu halten, rechnet der ehemalige Regierungschef vor. Das bekomme man dank den Vermögenssteuern der Pächter — Einkommen werden nicht besteuert — und durch grosszügige Zuwendungen hin. Eine soziale Absicherung gebe es zwar nicht für die Bewohner von Sark, aber wer bedürftig sein, werde unterstützt. Doch auch Reginald kennt die genaue Zahle der Einwohner nicht. Den vielen windschiefen Häusern mit überwucherten Gärten nach zu urteilen, gibt es aber wohl eher mehr Weg- als Zuzügler. Zuweilen kann man aus der Not aber auch eine Tugend machen: Dank der fehlenden Strassenbeleuchtung ist Sark 2011 zur ersten Dark-Sky-Insel erkoren worden. Auf Sternengucker wartet ein Teleskop in einer kleinen Scheune.

Entlang der etwa 200 Meter langen sandigen «Hauptstrasse», die sich «The Avenue» nennt, reihen sich eine Post, zwei Schulen und zwei Dutzend niedrige, offene, halbgeschlossene und geschlossene Läden und Restaurants mit verstaubten Auslagen und vergilbten Vorhängen aneinander. Das einzig Bunte: das Bistro «The Hatters». «Wir sind alle verrückt hier» steht in grossen Lettern unter einer grinsenden Katzenfratze an der Wand über der Theke. In den Vitrinen leuchten knallorange Kuchenstücke mit giftgrünen Streifen und rote Muffins mit dicken, weissen Punkten. Auf den Tischen stehen übergrosse Teekannen mit gestrickten kleinen Mäusen auf den Deckeln, an den Wände prangen riesige Trompe-l’oeil-Szenerien aus «Alice im Land der Wunder». Auf dem Klo beschleicht mich das mulmige Gefühl, als könnte mir die WC-Schüssel «à bétao» (à bientôt auf Sark-Französich) zuflüstern und mich plötzlich einsaugen.

Zusatz Guernsey: Zwar hat auch die zweitgrösste Kanalinsel einen eigenen Gesetzgeber, eine eigene Polizei, eine eigene Währung mit Noten und Münzen und eine eigene Sprache, doch sind alle Strassen geteert und beleuchtet. Die Städte, Dörfer und Buchten sind belebt, und man kann shoppen, flanieren, baden und vor allem wandern. Der 100 Kilometer lange Küstenweg lässt sich bequem in Etappen einteilen und bietet hinter jeder Biegung neue und spektakuläre Aussichten auf Meer, Landschaft und Festungsbauten, die von der napoleonischen bis in die Nazizeit reichen. Küche und Architektur sind eine ansprechende Kombination aus britischer Gemütlichkeit mit französischem Flair und normannischer Strenge.

Wollen Sie mehr über die Kanalinseln erfahren? Lesen Sie hier den Blog-Beitrag über Guernsey.

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