Guernsey – Die kleine Insel mit dem grossen Ego
Jahrhundertelang haben sich Grossbritannien und Frankreich um die Inseln im Ärmelkanal gestritten, doch bekommen hat sie niemand wirklich. Jedes der kleinen Eilande macht heute sein eigenes Ding und ist sehr stolz darauf.
Lucie Paska, NZZ-Journalistin, war mit Vögele Reisen und Imbach Reisen im Sommer 2022 auf den Kanalinseln unterwegs. Den packenden Beitrag schrieb sie für den artundreise Blog, welcher am 21. Dezember 2022 erschienen ist.
Statt der Kooperation wählen die Kanalinseln Guernsey und Jersey wenn immer möglich das Gegeneinander: Jede hat ihre eigene Sprache, ihr eigenes Parlament, ihre eigenen Banknoten und Münzen und ihre eigene Polizei. Sie betiteln einander mit Esel und Kröte, neiden sich den kräftigeren Cidre, die süsseren Kartoffeln und die günstigeren Steuern. Die einzige Konzession, die der joviale Guernésiai Scott Crouch den Jèrriais macht, ist, dass deren Kühe hübscher seien. Aber man könne ihnen nicht über den Weg trauen, schiebt er mit einem Grinsen nach, so wie auch den Leuten dort nicht. «Und ausserdem haben wir Guernésiais eine eigene Ziegenrasse – die Guernsey Golden Goat – und eine nationale Airline. Das haben die Crapauds (die Kröten) alles nicht . . .» Auch sei die Butter der Guernsey-Rinder noch süsser, fetter und goldiger als diejenige der Nachbarn, und der Gin sei sowieso besser.
Kühe auf Guernsey
Staatspolitische Skurrilität
Zwar gebärden sich die Inseln wie souveräne Staaten und sind weder Teile Grossbritanniens noch Mitglieder der EU. Doch sollten sie einmal militärische Hilfe benötigen, eine Vertretung im Ausland oder ein besonders anspruchsvolles Gerichtsurteil, ist London zuständig. Die Inseln sind britischer Kronbesitz und unterstehen damit direkt dem König oder der Königin. Schriftlich festgehalten sind diese Abmachungen jedoch nirgends.
Um trotz ihrer Kleinheit zu überleben – Guernsey ist mit seinen 78 Quadratkilometern bloss halb so gross wie Appenzell Innerrhoden –, mussten sich die Insulaner immer wieder Neues einfallen lassen: Belegte zum Beispiel Grossbritannien im ausgehenden 18. Jahrhundert Holz- oder Wollimporte mit hohen Zöllen, beeilten sich die Kanalinseln, diese Rohstoffe zollfrei einzuführen und zu Schiffen und Stoffen zu verarbeiten, auf die beim Export nur noch niedrige Zölle anfielen.
Als später im Ausland immer grössere Werften und Spinnereien entstanden, für die auf den kleinen Inseln kein Platz wäre, verlegten sich die ehemaligen Schiffsbauer auf das Zimmern von Treibhäusern für Tomaten und Blumen – äusserst ertragreiche Exportprodukte –, bis Holland und afrikanische Länder noch günstiger zu produzieren begannen. Also sattelte man auf das lukrative Finanzwesen um, das die Inseln seither gut ernährt. Um den schlechten Ruf als Steueroasen loszuwerden, arbeiten die lokalen Parlamente derzeit an einer transparenteren Gesetzgebung, wie Einheimische beteuern.
Lässt man alle persönlichen Animositäten, die politischen Kuriositäten und die wirtschaftliche Wendigkeit beiseite, wirkt Guernsey wie Klein-Britannien mit etwas französischem Flair. In der quirligen Hauptstadt St. Peter Port lässt sich wunderbar flanieren und dinieren, im ländlichen Inselinnern gemütlich Radfahren und an der Küste wunderbar wandern. Zum Übernachten empfiehlt sich eines der alten normannischen Bauernhäuser mit ihren dicken grauen Steinmauern. Tritt man durch die schwere, niedrige Tür in ihr verwinkeltes Inneres, fühlt man sich umgehend geborgen und geschützt vor allen bösen Geistern und Wetterkapriolen. An manchem Kamin hat es einen kleinen Sims, damit die Hexen, statt ins Haus zu fliegen, dort draussen an der Wärme sitzen bleiben.
Hafen von St. Peter Port
Am Morgen dämpft das feucht-kühle Licht noch alle Geräusche, draussen riecht es moosig nach Moder, und der weiche Weg aus dem Garten zum Meer hinunter windet sich durch wuchernden Wildwuchs und über rutschiges Wurzelwerk. Tief und tiefer führt er in ein sich verengendes Tal, folgt einem heiteren Bächlein in einen etwas unheimlichen Tunnel aus dichtem, tropfendem Blattwerk. Dann öffnet sich hinter einer Wegbiegung ein Lichtspalt im Dickicht und gibt den Blick frei auf einen weissen Himmel, eine wild zerklüftete Küste und das anbrandende Meer. Die Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke blitzen, hüpfen vom glitzernden Wasser auf die nassen Kiesel und die rauen schwarzen Felsen am Strand, tänzeln die weichen, grünen Hügelflanken hoch und umspielen die stoischen Silhouetten der riesigen Föhren am Horizont.
Kein Wunder, war auch ein Auguste Renoir von diesen eindrücklichen Szenerien berauscht: Während eines einmonatigen Aufenthalts hat er mit seiner Staffelei und seinen Malutensilien auf dem Rücken die Pfade entlang der Küste erkundet und die berückenden Veduten in 15 Bildern festgehalten. Hier erscheinen zum ersten Mal auch Menschengestalten in seinen impressionistischen Lichtspielen. Nackte Badende an gemischten Stränden – im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts unvorstellbar. Mehrere verschnörkelte Bilderrahmen aus verrostetem Eisen auf Stelzen markieren die Stellen, wo einige seiner berühmten Küstenbilder entstanden. Blickt man durch die Rahmen, sieht man auch heute noch praktisch dasselbe wie der französische Maler vor rund 140 Jahren.
St. Martins Saints Bay
Das Wetter bleibt wechselhaft. Mal windet es, mal nieselt es kurz, und dann lässt die Sonne wieder alles dampfen. Der Weg entlang der steilen Ostküste schlängelt sich durch dichte kalttropische Vegetation auf und ab, und dazwischen bieten sich Ausblicke auf kleine, einsame Buchten, die Küste der Normandie weit im Osten und die Schwesterinseln Sark, Herm und Jersey. An der Süd- und Westseite der Insel flacht das Gelände stark ab, und die sandigen Buchten öffnen sich weit und ausladend den kraftvollen Gezeiten.
Da der Golfstrom hier durch den engen Kanal zwischen England und Frankreich gepresst wird, türmen sich die Wassermassen bei Flut über 10 Meter hoch. Praktisch nirgendwo sonst auf der Erde ist der Tidenhub so gross wie hier. Bei Ebbe sinken die Boote in den Hafenbecken von St. Peter Port so tief, dass nur noch die Mastspitzen über die wuchtigen Quaimauern ragen. Die Strömungen sind entsprechend stark. An der felsigen Ostküste schwimmt man deshalb mit Vorteil in den grossen künstlichen Meerwasserbecken, die sich bei Flut regelmässig füllen, statt im offenen Meer. Die Westküste dagegen lädt zum unbekümmertem Baden ein.
Früher war diese flache Küste ein Einfallstor für Piraten und Feinde, weshalb jeder exponierte Punkt durch einen Festungsturm und später durch ein Labyrinth aus Bunkern gesichert wurde. Im Zweiten Weltkrieg betrachtete Hitler die Kanalinseln als Trittstein nach Grossbritannien und liess die Eilande in ein Bollwerk verwandeln. Tausende Kriegsgefangene verloren bei den schweren Erdarbeiten ihr Leben. Gill Girard, die Begleiterin auf unserer Erkundungstour, zeigt uns die Memoiren ihrer Tante vom September 1940: «In den Zeitungen stand, es sei die Evakuierung der Kinder geplant. Am nächsten Tag um 9 morgens hätten sie zur Schule zu kommen mit ihrer Gasmaske, einem Gepäckstück mit dem Nötigsten und einem Sandwich. Die Eltern sollten sich zu Hause von den Kindern verabschieden. Sie durften weder zur Schule noch zum Hafen mitkommen. Mit ihren Lehrern setzten sie dann mit Schiffen nach Grossbritannien über.» In Erwartung einer Invasion der alliierten Kräfte wollte man sie für kurze Zeit in Sicherheit wissen.
Aus den wenigen Tagen wurden fünf Jahre. Während sich auf den Inseln Not und Hunger breitmachten, kamen die Kinder in britischen Gastfamilien unter und besuchten dortige Schulen. Dabei ging allerdings auch das Guernsey French einer ganzen Generation verloren. Heute versuchen die Guernésiais ihr altfranzösisches Idiom in Konversationsgruppen und an Kulturfestivals wiederzubeleben. In den Gassen von St. Peter Port hört man gelegentlich noch ein «à la perchoïne» – bis zum nächsten Mal, oder «à bétao» – bis bald.
Musse und Muse
Die urtümliche Sprache, die Kraft der Natur und der Glaube der Inselbewohner an das Übernatürliche hat auch Victor Hugo fasziniert. Im Roman «Die Arbeiter des Meeres» hat er diesen drei Elementen ein Denkmal gesetzt. Er hatte nicht ganz so freiwillig und unbekümmert wie der Maler Auguste Renoir seinen Weg nach Guernsey gefunden: Wegen seiner progressiven politischen Ansichten und seiner anti-napoleonischen Gesinnung 1855 aus Frankreich verbannt, versuchte er zunächst in Belgien und dann auf Jersey unterzukommen, doch auch dort war er nicht willkommen. Guernsey dagegen nahm ihn auf, und er blieb 15 Jahre.
Seine Zuneigung zu der Insel, die ihm Exil gewährte, könnte auch dadurch verstärkt worden sein, dass er nicht nur seine Frau und seine zwei Kinder dabei hatte, sondern ebenso die Schauspielerin Juliette Drouet – seine Muse, Geliebte und Lektorin. Auf Guernsey wohnte sie nur einen Steinwurf von ihm entfernt, dennoch schrieb sie ihm jeden Tag einen Brief, wie auch in den Jahren davor und danach. Während ihrer 50 Jahre dauernden Beziehung hat sie ihm 22 000 Briefe geschrieben. Hugo seinerseits hat, von ihr inspiriert und unterstützt, Weltliteratur geschaffen: Auf Guernsey entstanden einige seiner bekanntesten Werke, darunter «Les Misérables».
Inseln sind kleine Welten, die sich nur selten einen fremden Lebensrhythmus aufzwingen lassen. Für Guernsey gilt das ganz besonders: Zwar haben sich in den alten Lagerhäusern am Hafen von St. Peter Port internationale Banken und Versicherungen einquartiert, doch immer noch markiert ein Kanonenschuss aus dem 800-jährigen trutzigen Castel Cornet die Mittagszeit.
Wollen Sie mehr über die Kanalinseln lesen? Lesen Sie hier den Blog-Beitrag über Sark.